Wider Wohnungsnot und Mietwucher
Die boomende Industriestadt schrie nach Arbeitskräften. In Massen zogen sie vom Land in die Stadt. Innerhalb von 50 Jahren vervierfachte sich die Einwohnerzahl Berlins. Bezahlbarer Wohnraum war nicht zu bekommen. Private Bauherren, Investoren, Vermieter pferchten möglichst viele Menschen für möglichst viel Rendite auf möglichst engen Raum. Es war die Zeit der Schlafburschen, die sich nur ein Bett für einige Stunden leisten konnten. Der 1888 neu gegründete „Verein Berliner Wohnungsmiether“ kämpfte erbittert gegen „Knebelverträge“, „Kahlpfändungen“, „Exmissionen“, „Kauf bricht Miethe“ und „wider Miethwucher und Eigenthümertyrannei”.
Dann kam der 1. Weltkrieg. Die Rüstungsindustrie sog neue Arbeitermassen an. Die preußische Regierung erließ halbherzig erste Verordnungen gegen Kündigungen und Mietwucher, da man soziale Unruhen fürchtete. Um die Gerichte zu entlasten, richtete man „Mieteinigungsämter“ und Schiedsstellen ein.
Nach dem Krieg strömten Heimkehrer und Vertriebene in die Stadt. Die Wohnsituation in Berlin wurde noch katastrophaler. Durch horrende Mietsteigerungen versuchten die Berliner Haus- und Grundbesitzer Kapital aus der Wohnungsnot zu schlagen. Doch erstmalig griff der Staat massiv ein. Die damals herrschenden Sozialdemokraten stärkten die Rechte der Wohnungs- und Mieteinigungsämter. Nach dem „Wohnraummangelgesetz“ und weiteren Ermächtigungsgesetzen konnten sie Zwangsmaßnahmen verordnen und „diktatorisch“ umsetzen. Von Oktober bis Dezember 1919 er-schienen zahlreiche neue Erlasse im amtlichen Teil des Friedenauer Lokalanzeigers. Sie wurden schlichtweg verfügt, bar jeglicher Erklärung der Hintergründe oder vorheriger Missstände. Wir listen die wichtigsten Verordnungen auf, kommentarlos. Jeder Leser mag sie selbst bewerten oder kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen, welche Maßnahmen vor 100 Jahren, anscheinend ohne bürokratische Hürden, möglich waren.
Jede freie Wohnung musste dem Wohnungsamt innerhalb von 24 Stunden gemeldet werden. Die Neuvermietung war dem Besitzer verboten, sie war alleiniges Recht des Wohnungsamtes. Eigenmächtige Abschlüsse von Mietverträgen waren nichtig. Betroffene Neumieter wurden „rücksichtslos entfernt und gegebenenfalls im Obdach untergebracht“. Nutzte ein Inhaber mehrere Wohnungen, so musste er erklären, welches seine Hauptwohnung war. Alle übrigen Wohnungen galten als nicht dauerhaft genutzt und wurden vom Wohnungsamt vermietet. Bei Zuwiderwandlung wurde der Inhaber mit 1.000 Mark bestraft.
Nutzte ein Inhaber eine im Verhältnis zur Bewohnerzahl übergroße Wohnung, so wurden Familien oder Einzelpersonen zwangseinquartiert. Dazu konnten Räume abgetrennt und als eigenständige Wohneinheiten vermietet werden. Dieser Zwangsmaßnahme konnte man nur entgehen, indem man „freiwillig“ wohnungslose Familien oder Einzelpersonen aufnahm. Das Wohnungsamt prüfte jede „freiwillige“ Aufnahme.
Auch Fabrik-, Lager-, Werkstätten-, Dienst-, Geschäfts-, Gasträume in Hotels oder Pensionen wurden als Notwohnungen herangezogen und waren zu räumen, auch wenn ihr Inhaber sie selbst nutzen wollte.
Mieterhöhungen waren damals nur möglich, wenn zuvor der alte Mietvertrag gekündigt war. Erst danach konnte der Vermieter die Miete neu vereinbaren. Kam keine Einigung über die Höhe der Miete und damit über die Fortsetzung des Mietverhältnisses zustande, so konnte der Mieter einen Antrag an das Mieteinigungsamt stellen. Das Amt prüfte, ob die Kündigung und die Höhe der Mietsteigerung gerechtfertigt waren. Der Mieter durfte so lange wohnen bleiben, bis das Einigungsamt entschieden hatte. Auch der Vermieter musste die Entscheidung des Amtes abwarten, bevor er eine Räumungsklage anstrengen konnte.
Um übermäßige Mietforderungen von Hausbesitzern zu verhindern, galt ein Mietendeckel. Ausgangspunkt war die „Friedensmiete“, also die Höhe der Miete vor Ausbruch des Weltkrieges. Auf dieser Basis durfte ein Vermieter einen Höchstzuschlag von 20% erheben, um die Teuerungsrate auszugleichen. Falls der Vermieter mit den Höchstzuschlägen nachweislich nicht auskam, musste der Mieter sich an den Instandsetzungsarbeiten und öffentlichen Abgaben beteiligen. Die Groß-Berliner Hausbesitzervereine hielten das Höchstmietengesetz für ungesetzlich. Die Behauptung, dass in Berlin Mietwucher getrieben werde, entbehre jeglicher Begründung. Niemand bekämpfe den wirklichen Mietwucher schärfer als der organisierte Hausbesitz. Sie beschlossen einstimmig, trotz des Verbots, allen Hausbesitzern zu empfehlen, die Mietverträge bis Januar 1920 zu kündigen, um Mieten neu festsetzen zu können.
Als bekannt wurde, dass Vermieter Nebenkosten von teilweise 200% auf die Miete aufschlugen, wurde verfügt, dass erhöhte Heiz- und Warmwasserkosten von den Schiedsstellen überprüft werden mussten. Waren die Mehrkosten gering, so musste der Vermieter sie allein tragen. Waren sie erheblich (im Oktober 1919 hatte sich der Kohlepreis um 1.000 % erhöht), so wurden sie zu ¾ dem Mieter und zu ¼ dem Vermieter auferlegt. Gleichzeitig konnte der Mieter Minderungsansprüche geltend machen, wenn die Heizungs- und Warmwasserversorgung aufgrund von Lieferschwierigkeiten eingeschränkt war. Die Mieter bestimmten Vertrauensleute, welche Beschaffung, Verwendung und Kostenberechnung des Heizmaterials überwachten.
In einem langen Leserbrief forderte der Rechtsanwalt Dr. Chorus, die Mieten den Vermögensverhältnissen der Mieter anzupassen. Dagegen wandte sich ein Hausbesitzer, der ausführlich erläuterte, dass die überwiegende Mehrheit der Vermieter keine Kapitalisten, sondern Handwerker, Kaufleute, Witwen seien, die ihr erspartes geringes Kapital sicher anlegen und ihren Lebensunterhalt durch eine bescheidene Rente verbessern wollten. Vermieter seien keine Wohltäter, sondern verlangten mit Recht eine angemessene Verzinsung für das investierte Kapital. Die Nutznießer dieses Kapitals müssten die zur Erhaltung des Hauses notwendigen Beträge aufbringen.
Auch Neubauprojekte wurden von den Sozialdemokraten aufgelegt. In den 20er Jahren entstanden in Groß-Berlin mehrere „Genossenschaftssiedlungen“ für sozial Benachteiligte, in Schöneberg beispielsweise die Gartenstadt „Lindenhof“. In Friedenau selbst gestalteten sich die Neubauprojekte eher schmalbrüstig. Ganze 10 Holzhäuschen wurden am Maybachplatz (heute Perelsplatz) und an der Wiesbadener Straße errichtet. Immerhin machten die Häuschen, laut Friedenauer Lokalanzeiger, „einen recht schmucken, gefälligen Eindruck. Sie haben Veranden und werden auch von einem kleinen Gärtchen umgeben.“
Maria Schinnen