Trautes Heim, Glück allein?



Der neuzeitliche Ausdruck entstammt dem englischen Nomen "gentry", das vom Adjektiv „gentle“ (wie in "gentleman" oder das seltenere "gentlewoman") abgeleitet wird; "gentle", wiederum, findet seinen Ursprung aus „gentil“ - feinfühlig oder sanftmütig beziehungsweise wohlerzogen - in der anglo-normannischen Hofsprache. Im Mittelalter setzte sich die englische Gentry aus einer Schicht des niedrigen Adels, wohlhabende, bürgerliche Landbesitzer und dem Klerus zusammen, der aus seinem Grundbesitz Verpachtungseinnahmen erzielte.
Gentrifizierung bezeichnet heute den gesellschaftlichen Prozess, bei dem die gegenwärtigen Vertreter der oben erläuterten oberen Mittelschicht - wohlhabende, bürgerliche Angestellte, Arbeitgeber und Freiberufler - Wohnraum in bescheidenen oder heruntergekommenen Gegenden für sich in Anspruch nehmen. Folgt man dieser Theorie, dass Neureiche in Gegenden hinzuziehen, in denen traditionell Arbeiter, Ausländer oder "Alternative" wohnen, verändert sich unvermeidlich die Kiezstruktur, fast ausnahmslos zugunsten der Besserverdienenden. Bei diesem Vorgang werden Ärmere oder Einflusslosere durch höhere Lebenskosten und die Entfremdung der einstigen Nachbarschaft von ihrem Wohnumfeld verdrängt, gar vertrieben.
Fremdstämmiger Begriff, lokale Auswirkungen
Nach Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Kreuzberg wird nun auch in Schöneberg viel über Gentrifizierung geredet - und ebenfalls viel befürchtet. Am deutlichsten zu verzeichnen sind die rasant anwachsenden Mieten, wovon auch in der vor kurzem abgehaltenen Berliner Abgeordnetenwahl häufig die Rede war. Investoren des Berliner Immobilienmarkts, mitunter viele aus dem Ausland mit fehlender Lokalkenntnis, sehen in den vielen Schöneberger Kiezen, den Banken- und Börsenkrisen trotzend, bloß eine sichere, stets steigende Renditeaussicht. In der City-Lage im Norden Schönebergs verteuern sich die Mieten in Altbauten prozentual sogar mit am stärksten berlinweit. Viele alte Bezirksbewohner können den Mieterhöhungen nicht nachkommen und finden keinen bezahlbaren Ersatz in ihren heimischen Vierteln - auch in ehemals wenig attraktiven Gegen-den wie dem "Bülow-Bogen" oder im Froben- und Kulmer-Kiez.
Die vielen Eigentumswohnungen, die im Schöneberger Immobilienmarkt zur Zeit angeboten werden, verknappen das Angebot an Mietwohnungen. Dadurch drängen die Mietpreise zusätzlich nach oben, auf einen Level, der für ökonomisch Schwächere unerschwinglich wird. Wie schon oft beobachtet werden konnte, erwirken die Bewohner solcher Eigentumswohnungen selbst eine Veränderung des Lokalkolorits - vom Bunten ins Monochrome. Beispiel: Ein Anbieter solcher Eigentumsimmobilien wirbt inzwischen mithilfe von schnittigem Foto- und Videomaterial über seinen Webauftritt gezielt für den Zuzug in die multikulturelle, bohèmehafte Nachbarschaft der Goltz- und Akazienstraße. Doch die umworbenen Zuzügler ersetzen fortschreitend durch ihre Präsenz (und größere Kaufkraft!) genau die Bewohner und (letzten Endes) Gewerbetreibenden, die solche Kieze überhaupt für die kecke Werbung interessant machen. So gesehen werden Alt-eingesessene und Unkonventionelle dieser beliebten, belebten Strecke bloß zu einer Art Kulissenbildner für den Verkauf praktischer Mustertapete, die gegebenfalls ausgetauscht werden kann.
Viele Mietwohnungen in vorhandenen Häusern werden in Eigentumswohnungen umgewandelt. Hervorstechend sind jedoch die Neubauten für Eigentumswohneinheiten, die entweder Baulücken schließen oder (vermeintlich) ausgediente Bauwerke ersetzen. So in der Winterfeldtstraße 61/63: Seit 2009 stehen drei auf Retro geputzte Wohnhäuser auf einem ehemaligen BSR-Recycling-Platz. Oder das scharfkantige, anthrazitfarbige Haus in der Goltzstraße 40b: Auslöser für viel Kopfschütteln, hervorgebracht durch ihre der unmittelbaren Nachbarschaft fremde Form und Farbe. Der Platz, auf dem das Haus jetzt steht, besetzte bis vor Kurzem die nicht vorgesehene - aber auch nicht unwichtige - Position „unbenannte städtische Brachfläche“. Vorgesehen für den Bau von Eigentumswohnungen sind u.a. die Grundstücke Vorbergstraße 4 - hierfür wurde neulich ein nüchternes Industriegebäude der Wirtschaftswunderjahre abgebrochen -, sowie Katzlerstraße 17 - in einem der sozialen Brennpunkte Schönebergs schlechthin - wofür bereits die Fläche des Vorderhauses freigemacht wird.
Den Lauf der Dinge aufhalten?
Auch in der Barbarossastraße 59/60, an der nördlichen Ecke des Alice-Solomon-Parks, soll der Investoren- und Bezirksplanung nach ein heruntergekommenes Gebäude gegen einen opulenten Neubau ausgetauscht werden. Bei dem noch vorhandenen Bau geht es um einen schmucklosen Wohnsolitär aus dem Jahre 1964. Die meisten Mieter sind bereits ausgezogen, doch immerhin wohnen dort noch einige wenige einkommensschwache Personen. Der Ersatzbau wiederum soll vermögende, "schickliche" Bürger als neue Kiezbewohner anziehen.Dagegen wird, trotz der Abrissgenehmigung der BVV vom 31.08.2011, am Barbarossa Platz von den Betroffenen und deren Sympatisanten gekämpft. Die Mieten sind niedrig, die Lage zentral; mit diesen Voraussetzungen wollen die noch verbliebenen Bewohner, mitsamt ihrem auch dort wohnenden Rechtsanwalt, sich für den Erhalt und die Modernisierung des alten Hauses einsetzen. Ihr Hauptargument: "Vertreibung und Kahlschlag: Mit Unterstützung der Bezirkspolitik soll ein Mietshaus in Berlin-Schöneberg mit 106 günstigen Wohnungen und großem bewaldeten Park einem Luxus-komplex (...) weichen." Eine beispielhafte Auseinandersetzung, bei der die städtebauliche Aufwertung direkt zu der Verdrängung von Altmietern führt, die ihrerseits durch die erzwungene Neuanmietung von Wohnraum den allgemeinen Mietspiegel zusätzlich erhöhen.Doch dreht es sich um mehr als ein einziges Haus, hübsch oder hässlich. Es geht um preiswerten (und überhaupt mietbaren!) Wohnraum in allen Schöneberger Wohngegenden. Es geht um Milieuschutz, um den behutsamen Erhalt des "Berliner Mixes" - der allen Bevölkerungsschichten mit allen Lebenseinstellungen ein Wohnumfeld zu bieten hat. Überhaupt geht es um eine Verhinderung der Gentrifizierung des Bezirks, gegen die Verdrängung von Armen und Unangepassten.
Ein Ende oder eine Umkehr sind nicht in Sicht - von dem Begriff Gentrifizierung wird noch viel in den örtlichen Kiezen die Rede sein. Und hier in Schöneberg, wie auch anderswo, hat die reale Wirkung des wissenschaftlichen Worts mit dem Herkunftsterminus „gentil“ ganz und gar nichts gemeinsam.
Timothy W. Donohoe