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29.04.2014 / Menschen in Schöneberg

Schöneberger Krawalltage

Am 4. November 1929 berichtete der Friedenauer Lokal-Anzeiger unter der Überschrift: „Friedenauer Nationalsozialist bei Streikkrawall in Schöneberg erschossen“ von den Ereignissen vor dem Straßenbahndepot in der Belziger Straße: Es habe sich „eine große Gruppe von Kommunisten und uniformierten Nationalsozialisten angesammelt ...
Links im Bild die durch Steine und Balken unbrauchbar gemachten Straßenbahnschienen in der Hauptstraße. Literaturhinweis: Klaus Rainer Röhl, Nähe zum Gegner. Kommunisten und Nationalsozialisten im Berliner BVG-Streik 1932, Campus Verlag 1994. Foto: Archiv Tempelhof-Schöneberg

Vor wenigen Wochen ist es nun auch Griechenland als dem von der aktuellen Banken-, Finanz-, Wirtschafts-, und Staatsschuldenkrise am schwersten betroffenen Land gelungen, an den Kapitalmarkt zurückzukehren, um alle Staatsausgaben finanzieren zu können. Die Fachleute weisen allerdings darauf hin, dass dabei neben dem erstmals wieder ausgeglichenen Primärhaushalt, also dem Staatshaushalt ohne die krisenbedingten Zinsbelastungen und Bankenstützungen, auch die Solidarität der Staatengemeinschaft eine wichtige Rolle gespielt hat. Denn die Einrichtung des internationalen Rettungsfonds hatte gezeigt, dass die Partner das Land nicht im Stich lassen, sodass die neuen Kapitalgeber damit rechnen können, dass auch für den Fall neuer Gefahr die europäischen Staaten wieder einspringen werden.

Weltwirtschaftskrise 1929
Im Jahr 1932 war Deutschland das am schwersten betroffene Land einer anderen Weltwirtschaftskrise, die wie die jetzige von den USA ihren Ausgang genommen hatte. Es begann im Oktober 1929 mit dem Crash der New Yorker Börse, und es folgte weltweit eine Kette von Zusammenbrüchen erst von Banken, dann von Unternehmen, um schließlich auch die Staatshaushalte zu erreichen. Doch anders als in der heutigen Krise, gab es in der damaligen keinen internationalen Hilfsfonds. Jedes Land war auf sich allein gestellt. Wie in den heutigen Krisenländern die Haushalte von Staaten und Unternehmen mit eisernen Sparanstrengungen wieder in Ordnung gebracht wurden, versuchten auch in der damaligen Krise die deutsche Regierung und die Unternehmen mit eiserner Sparhand, den Absturz ins Bodenlose zu verhindern. Und damals wie heute wurden die daraus folgenden Belastungen für die Menschen unerträglich.

Im Krisendeutschland des Jahres 1932 erhielt von 6 Millionen Arbeitslosen und 5 Millionen Kurzarbeitern mehr als ein Drittel überhaupt keine Unterstützung mehr. Jeder vierte „anerkannte“ Arbeitslose bekam als Erwerbslosenunterstützung 20 Mark die Woche, und knapp die Hälfte musste von der noch niedrigeren Wohlfahrtsunterstützung leben. In dieser Not wuchs verständlicherweise der Neid auf diejenigen, die wenigstens ein wenn auch noch so geringes Arbeitseinkommen hatten und vergiftete das politische Klima zusätzlich. Große Teile der Bevölkerung verloren das Vertrauen in die Fähigkeit der republikanischen Parteien, diese Krise zu beenden. Radikale Kräfte versprachen paradiesische Verhältnisse nach dem Ende der bekämpften Republik und hatten mittlerweile die Mehrheit im Reichstag, so dass die Regierung nur noch außerparlamentarisch über Notverordnungen handeln konnte. Auf der Straße regierte die Gewalt der militarisierten Parteiformationen. Doch so sehr sich Kommunisten und Nationalsozialisten auch einig waren in dem Ziel, diese Republik zu vernichten, so einig waren sie auch darin, sich wechselseitig als den Hauptgegner ihrer jeweiligen Paradiesidee vernichten zu müssen.

Gemeinsam gegen die Republik
Umso erstaunlicher ist das aktive Zusammengehen beider Kontrahenten beim BVG-Streik wenige Tage vor den Reichstagswahlen am 6. November 1932, 90 Tage vor Hitler als Reichskanzler. Aber beide Seiten hatten dafür stichhaltige Gründe: Die Nazis sahen hier eine gute Gelegenheit, sich als Unterstützer der Arbeiterschaft in Szene zu setzen, und die Kommunisten sahen in der Zusammenarbeit mit den Nazis die Gelegenheit, die „Naziproleten“ aus den Reihen der Gegner zu sich herüberzuziehen. Und außerdem ging es auch um einen Kampf auf weitgehend sozialdemokratisch bestimmtem Gelände. Nicht nur waren Direktoren und Aufsichtsräte der BVG Sozialdemokraten, darunter der spätere West-Berliner Bürgermeister Ernst Reuter, auch Belegschaft und Gewerkschaft waren weit überwiegend sozialdemokratisch geprägt.

Der Grund zum Aufstand war die nun bereits fünfte Kürzung des Reallohns durch Lohnsenkung, Feierschichten und unbezahlte Arbeitszeitverkürzungen. Die Empörung der 22.000 BVG-Mitarbeiter hatte sich auch dann nicht gelegt, als es der Gewerkschaft gelang, die vorgesehene Stundenlohnsenkung von 23 Pfennigen auf 2 Pfennige herunter zu verhandeln. Trotzdem wäre ein Streik gegen die im Hause dominierende Sozialdemokratie, der von den Kommunisten als Auslöser für eine Ausdehnung auf die Betriebe der Wasser-, Strom-, und Gaswerke geplant war, ohne die Hilfe der Nazis nicht möglich gewesen. Unter der von dem Propagandaminister des späteren Nazi-Reichs, Josef Goebbels, gefundenen Parole „Keinen Pfennig Lohnraub bei der BVG“ bildeten beide zusammen das zentrale Streikkomitee. Und als die vorgeschriebene Zweidrittel-Mehrheit bei der Urabstimmung knapp verfehlt wurde und die Kommunisten diese kurzerhand für erreicht erklärten, begannen beide Partner den Streik mit massiver Unterstützung der Arbeitslosen von SA und Rotfront.

Am 4. November berichtete der Friedenauer Lokal-Anzeiger unter der Überschrift: „Friedenauer Nationalsozialist bei Streikkrawall in Schöneberg erschossen“ von den Ereignissen vor dem Straßenbahndepot in der Belziger Straße: Es habe sich „eine große Gruppe von Kommunisten und uniformierten Nationalsozialisten angesammelt, um jedes Ausfahren von Straßenbahnen zu verhindern“. Die Menge habe die Schienen mit herausgerissenen Steinen und Balken blockiert, arbeitswilliges Personal verprügelt und Fahrzeuge demoliert. Die anrückende Polizei sei mit Steinen beworfen worden, und als auch die herbeigerufene Verstärkung die Lage nicht unter Kontrolle bekommen habe, sei auch von der Schusswaffe Gebrauch gemacht worden, wobei der 45-jährige Curt Reppich aus der Hackerstraße tödlich getroffen worden sei. Und weiter: „Er war Bezirkszollkommissar und unterstand dem Hauptzollamt Berlin-Süd … Er galt als einer der tüchtigsten Außenbeamten und hatte an besonders exponierter Stelle zu arbeiten. Seinen Kollegen und Vorgesetzten ist es unerklärlich, wie sich Reppich, der nach Angaben der Polizei Mitglied der NSDAP gewesen war, an den Krawallen vor dem Straßenbahndepot in der Belziger Straße und an dem Steinbombardement auf das Überfallkommando beteiligen konnte.“

SA marschiert
Die Nazis wussten es besser. Goebbels schrieb am 11. November in sein Tagebuch: „In Schöneberg tragen wir den SA-Mann Reppich, der während des Streiks erschossen wurde, zu Grabe. Vierzigtausend Menschen geben ihm das Geleit. Er wird zur Ruhe gebettet wie ein Fürst. Über dem Friedhof kreisen Flugzeuge mit umflorten Hakenkreuzwimpeln, als wollten sie dem Toten die letzten Abschiedsgrüße zurufen. Die SA-Leute sind tief ergriffen.“
Die Krawalle zogen sich bis vor das Schöneberger Rathaus, dauerten die ganze Nacht an und endeten erst um 6 Uhr früh. In ganz Berlin kam der Verkehr zum Erliegen. Trotz der Verhaftung einiger Mitglieder und Kuriere des illegalen Streikkomitees hielten die örtlichen Streikleitungen in den Betriebsstätten und Bahnhöfen die Verkehrsunterbrechung sogar bis zum Wahlsonntag aufrecht. Insgesamt gab es vier Tote und viele Verletzte. Die Lohnsenkung um 2 Pfennige aber blieb trotz Streik bestehen. 1 800 Streikende wurden entlassen. In dem vom späteren Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, an das Büro der Kommunistischen Internationale (Komintern) in Moskau gesandten Bericht zu dem Streik heißt es anerkennend: „Nun zum Schluß etwas über die „terroristischen“ Akte zur gewaltsamen Verhinderung der Streikbrecherarbeit. Die meisten Akte dieser Art wurden in Schöneberg verübt, d.h. in einer Hochburg der Nazis, und in erster Linie von den Nazis.“

Bei den Wahlen wurde die KPD stärkste Partei, die SPD wurde zum Verlierer. Auch wir stehen wieder einmal vor Wahlen. Wie schön, dass wir diese Gewaltanbeter von links und rechts endlich los sind und am 25. Mai über die Zukunft Europas nicht mit der Faust oder den Füßen, sondern mit unserem Kreuz auf dem Wahlzettel abstimmen können.

Ottmar Fischer