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29.03.2021 / Menschen in Schöneberg

Ruhig und im Grünen

150 Jahre Rosa Luxemburg - 2. Teil von Maria Schinnen.

Als der Zug am 16. Mai 1898 früh morgens um 7.30 Uhr in Berlin eintraf, betrat Rosa Luxemburg das erste Mal Berliner Boden. Sofort begab sie sich mit ihrer Kusine auf Wohnungssuche. Am nächsten Tag schrieb sie an ihren Geliebten Leo Jogiches nach Zürich. „Du hast keine Ahnung, was es heißt, in Berlin eine Wohnung zu suchen … Die Zimmer sind überall schrecklich teuer. Selbst das billigste hier in Charlottenburg kostete 28 Mark. An ein gesondertes kleines Schlafzimmer ist natürlich nicht im Traum zu denken. Eine einzige Stelle, an der wir überhaupt ein Zimmer mit Schlafzimmer vorfanden, allerdings elegant möbliert, kostete 80 Mark!“ Das waren in der Tat horrende Preise, wenn man bedenkt, dass ein Arbeiter damals etwa 60 Mark im Monat verdiente. „Ich hasse Berlin und die Deutschen…“, schrieb sie entnervt. Die Riesengröße Berlins erdrückte sie, sie fühlte sich fremd und allein.

Kein Wunder, denn zuvor hatte sie in Zürich, einem im Vergleich zu Berlin überschaubaren 26.000-Seelen-Nest gelebt. Hier hatte sie studiert, Freunde und einen Geliebten kennen gelernt und ihre Doktorarbeit in Nationalökonomie und Jura geschrieben. Die Schweiz war damals das einzige freie Land, wo auch Frauen, und sogar sie als gebürtige Polin, eine Hochschule besuchen durften.

Verständlicherweise fehlten der 27-Jährigen nun ihre Freunde. Doch sie hatte sich in den Kopf gesetzt, nach Deutschland auszuwandern, war sogar eine Scheinehe mit dem Schlosser Gustav Lübeck, einem deutschen Emigranten, eingegangen, nur um die deutsche Staatangehörigkeit zu erlangen. Ihr Ziel war der Eintritt in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Sie hoffte, die SPD für die SDKP (Sozialdemokratie des Königreich Polens), die sie mitbegründet hatte, zu gewinnen und Wahlkampf für beide Parteien innerhalb des deutsch besetzten Teil Polens zu machen.  

Am vierten Tag ihrer Wohnungssuche nahm sie schließlich ein Zimmer zur Untermiete in der Cuxhavener Straße 2 im Hansaviertel, direkt am Tiergarten. 33 Mark pro Monat kostete das sonnige Zimmer mit Balkon und Fenstern ins Grüne. Es war elegant möbliert, mit Piano, Schreibtisch, Schaukelstuhl, einem Spiegel über die ganze Wand. Rosa Luxemburg war glücklich, zumal sie das Hansaviertel entzückend und ruhig fand, es gäbe dort keine Straßenbahnen, ringsum üppiges Grün, die Luft ausgezeichnet. Unmittelbar nach ihrem Einzug trat sie in die SPD ein.

Nur ein Jahr konnte sie in diesem Zimmer bleiben, dann suchte sie erneut, wieder ruhig und im Grünen. Ihre Wahl fiel auf die Landgemeinde Friedenau. Doch auch hier gestaltete sich die Suche schwieriger als erwartet: Mal waren die Zimmer zu teuer, mal wollte man nur Offiziere, mal gar keine Frauen. Schließlich fand sie ein Zimmer zur Untermiete, das nur wenige Häuser von  Karl und Luise Kautsky entfernt lag. An Leo Jogiches schrieb sie im August 1899: „Heute habe ich mir endlich eine Wohnung in der Wielandstr. 23 gemietet, Salon mit Plüschmöbeln und einem großen Balkon, im II. Stock, ein Prachteingang, ich habe es gleich mit „Pension“ für 80 M genommen. Ich bekomme morgens Kaffee, Mittagessen und Abendbrot … Dadurch bin ich gezwungen, um 7 ½ (um 8 Uhr gibt es Kaffee!) aufzustehen, danach bin ich den ganzen Tag ordentlich angezogen, denn ich muß mit anderen bei Tisch essen, schließlich esse ich regelmäßig und habe keinen Schmutz im Zimmer. Die Leute sind sehr anständig: ein junges Paar mit drei Kindern … Außer mir wohnt und ißt niemand bei ihnen; das Essen ist sehr schmackhaft (viermal täglich) und das Zimmer prachtvoll. Küsse!“

Die Wielandstraße gehörte damals zur Gemarkung Schöneberg und nur postalisch zu Friedenau. Seit 1884 wurde sie bebaut, zunächst mit dreistöckigen Landhausvillen von Privatleuten, ab 1892 dann, nach Änderung der Bauordnung, mit viergeschossigen Mietshäusern mit Erkern, Loggien, Balkonen und Stuckdekor. Es gab Vorgärten und Innenhöfe, die von Seitenflügeln umschlossen waren. Das Haus 23 gehörte zu den letztgenannten Gebäuden. Praktisch war die Nähe zum S-Bahnhof Friedenau, so dass Rosa Luxemburg mit der Wannseebahn bequem die Berliner Bibliotheken, die Parteizentrale und ihre Vortragsorte er-reichten konnte.

Häufig verkehrte sie im Hause Kautsky und freundete sich mit Luise an. Nach den Parteiabenden in Kautskys Wohnung brachte Luise ihre Freundin stets nach Hause. Und weil der kurze Weg so wenig Zeit zum Reden ließ, gingen die Frauen stundenlang hin und zurück. Meist hatte Rosa dann ihren „Dricker“ (Schlüssel) vergessen, und fast allnächtlich warteten sie vor ihrer Haustür, bevor der Wächter öffnete. Währenddessen sang sie lauthals Figaro-Arien, die Marseillaise oder die Internationale, was ihr regelmäßig strenge Verweise vom dicken Wachtmeister Maier, den sie „das Fettauge des Gesetzes“ nannte, einbrachte. Auch Weihnachten feierte sie meist bei den Kautskys, brachte fantasievolles, bewegliches Spielzeug für die drei Kinder mit und konnte sich stundenlang, mit glühenden Wangen daran vergnügen.   

Ein Jahr später kam auch Leo Jogiches nach Berlin und mietete ein kleines möbliertes Zimmer bei denselben Wirtsleuten. Dass er Rosas Geliebter war, durfte wegen des Kupplungsparagraphen niemand wissen. Irgendwann hatte Rosa das Leben in der Pension satt, und sie suchte eine eigene Wohnung für sich und Leo. Seit 1889 war in der Gemarkung Schöneberg hinter der Wannseetrasse ein Neubaugebiet entstanden. Es hieß „Neu-Friedenau“, später „Malerviertel“, da die Straßen nach Malern benannt wurden. Der Bauherr, die „Schöneberg-Friedenauer Terraingesellschaft“ warb mit dem Text:  „Gesunde Lage, vorzügliche Verbindung nach Berlin durch Wannseebahn (fast durchweg 10-Minuten-Verkehr, Fahrtzeit 9 Minuten), Ringbahn, Dampfbahn, Pferdebahn, fertige Straßen-, Kanalisations-, Gas- und Wasseranlagen, Bauparzellen auch mit Bauerlaubnis am Bahnhof Friedenau“. 1902 mietete Rosa eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche und Balkon in der Cranachstraße 58. Sie zog in das rot gestaltete Zimmer, für Leo war das grüne vorgesehen, wenn er in Berlin weilte. Die Einrichtung war recht bürgerlich: Glasschrank für Bücher und Nippesfiguren, Tisch mit Samtdecke. Das Dienstmädchen schlief in der Küche.

Im Jahr 1907, knapp fünf Jahre nach ihrem Einzug, war Neu-Friedenau für fünf Monate das Ziel eines enormen Besucherandrangs. Direkt vor Rosas Haustür fand vom 15. Mai bis 15. September auf dem damals noch unbebauten Gelände zwischen Rubensstraße, Vorarlberger Damm und dem heutigen Grazer Platz die „Deutsche Armee-, Marine- und Kolonial-Ausstellung“ statt. Fantasiereich wurden die neuesten deutschen Erfindungen sowie Waren aus deutschen Kolonien präsentiert. Die Hauptattraktion aber war „Wild-Afrika“. In einem 85.000 qm großen „Vergnügungspark“ mit malerischer Riesen-Freilicht-Dekoration konnten die Besucher afrikanische Eingeborene und ihre Haustiere besichtigen und bei der Arbeit beobachten. Solche Völkerschauen waren damals äußerst beliebt, da sie die Neugier auf das Fremde, den Reiz der Exotik und die Klischees über das Leben in den afrikanischen Kolonien bedienten. Natürlich gehörte zu jedem Wild-Afrika-Besuch auch ein abenteuerlicher Ritt auf dem Kamel oder ein exotisches Foto hoch zu Elefant. Es ist nicht überliefert, ob Rosa Luxemburg diese Ausstellung besuchte. Wahrscheinlich aber nicht, denn sie lehnte den Kolonialismus strikt ab.

Bis 1911 wohnte Rosa in der Cranachstraße. Dann störte sie der zunehmende Kinderlärm und sie fand ein neues ruhigeres und wiederum im Grünen gelegenes Quartier in der Lindenstraße 2 in Südende/ Steglitz (heute Biberacherstraße). Hier blieb sie bis zu ihrer Ermordung im Jahre 1919. Poetisch beschreibt sie das neue Leben in dieser Straße:
 
„In Südende pflegte ich abends in der Straße herumzuschlendern; es ist so schön, wenn noch im letzten violetten Tageslicht plötzlich die rosigen Gasflammen an den Laternen aufzucken und noch so fremd in der Dämmerung aussehen, als schämten sie sich selbst ein wenig. Durch die Straße huscht dann geschäftig die undeutliche Gestalt irgendeiner verspäteten Portierfrau oder eines Dienstmädchens, die noch schnell zum Bäcker oder Krämer laufen, um etwas zu holen (...) Und ich stand da mitten in der Straße, zählte die ersten Sterne und mochte gar nicht heim aus der linden Luft und der Dämmerung, in der sich der Tag und die Nacht so weich aneinanderschmiegten."