Muttertag
Die Mama muss an diesem Sonntag extra lange im Bett bleiben und sich ausschlafen. Das gelingt nicht immer, wenn die Kinder im Nebenzimmer beim Tischdecken um die Messer streiten und so laut mit den Tellern klappern, dass Mama um ihr Geschirr fürchtet. Endlich geht die Schlafzimmertür auf und mit dem Duft von verkohltem Toast stürmen die Kinder herein.
Noch im Bett wird sie mit Muttertagsgeschenken überhäuft. Kindergarten-Kinder präsentieren überdimensionale Bilder mit Horden von Kopffüßlern, die unbedingt als die eigene Familie zu erkennen sind. Erstklässler sagen kleine Gedichte auf, je nach Einstellung der Lehrerin sehr lustig oder sentimental, und Mama ist ganz gerührt. Hort-Kinder schenken Selbstgebasteltes, mit Farbhänden bedruckte T-Shirts (welche Mutter trägt nicht gerne bunte Kinderhände auf dem Busen) oder selbstgetöpferte Tassen, die als solche eindeutig an dem winzigen Henkel auszumachen sind. „Mama, den Unterteller bekommst du nächstes Jahr, da hatte ich diesmal keine Zeit mehr für.“ (Na also, wieso hatte sie sich eigentlich um ihr Geschirr gesorgt). Der Vater schenkt die obligatorischen Blumen oder Parfüm.
Dann gibt es endlich Frühstück. Mama genießt den Kaffee, der bitter ist wie Galle, weil die Große lieber zwei Löffel mehr Kaffeepulver in die Maschine getan hat, als Vater es angeordnet hatte. Und sie lobt die harten Frühstückseier, die fast blau gekocht sind, weil der Kleine vergessen hatte, den Klingelwecker einzustellen.
Wenn die Kinder das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine geräumt haben, ist die Hausarbeit auch schon abgeschlossen, denn einkaufen, putzen, waschen steht sonntags glücklicherweise nie auf dem Plan. Jetzt haben sie ganz viel Zeit zum Spielen und Mama darf sich aussuchen, was sie spielen möchte: Autoquartett oder Mau-Mau oder doch lieber Mensch-ärgere-Dich-nicht. Die Kinder schummeln diesmal extra so, dass Mama gewinnt, weil ja Muttertag ist. Und Mama ist ganz gerührt!
Im Hintergrund läuft Radiomusik, und an diesem Tag wird auf fast jedem Sender irgendwann Pfitzmanns Interpretation von „Mutters Hände“ gespielt und Mama kommen jedes mal die Tränen vor Rührung.
Nachmittags werden die Mütter der vorangegangenen Generation gefeiert. Entweder kommen Mutter und Schwiegermutter zu Besuch, dann gibt es die Kuchen, die Mama vorrausschauend schon am Vortag gebacken hat, oder die ganze Familie fährt zur Oma hin, dann hat die den erforderlichen Kuchen gebacken. So bleibt dieser Teil der Vorbereitungen den Kindern und Vätern erspart.
Da die Kinder keine Lust haben, ein Abendbrot für so viele Leute zuzubereiten und der Vater Zweifel hat, oft mit Recht, ob ein von ihm bereitetes Abendessen den Ansprüchen der Mütter an einem solchen Tage genügen würde, lädt er die ganze Familie zum Abschluss des Muttertages zum Essen ein. Allerdings muss dieser Höhepunkt des Tages langfristig geplant werden, denn solche geniale Idee haben viele Väter. Die Restaurants sind für diesen Tag schon Wochen im Voraus ausgebucht.
Jedes Jahr gibt es Diskussionen, ob der Muttertag vielleicht überflüssig ist, weil die Kinder ihre Mütter eigentlich jeden Tag lieben sollten, weil dynamische moderne Mütter gar keine Kinder wollen, die nur brav sind, und weil emanzipierte Frauen nicht nur wegen ihrer Mutterrolle geehrt werden wollen. Und doch ist es immer wieder schön, wenn die Familie mal einen Tag nicht selbstverständlich annimmt, dass Mama immer für alle da ist und alles macht.
Und wenn alles läuft wie geplant, war es am Ende für alle ein gelungener Tag. Die Kinder sind stolz, dass sie der Mama was Gutes getan haben. Der Vater ist stolz, dass der Tag ohne große Probleme vergangen ist. Und Mama ist stolz auf ihre prächtige Familie.
Christine Bitterwolf