Zur Orientierung für Menschen mit Behinderungen

27.09.2011 / Projekte und Initiativen

Ins goldene Bananenland

So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen | Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe, | Doch immer bin ich, wie im ersten fremd, | Denn ach! Mich trennt das Meer von den Geliebten (Goethe: Iphigenie auf Tauris)
Foto aus der Ausstellung „Verschwunden und vergessen. Flüchtlingslager in West-Berlin“ Erinnerungsstätte Notaufnahmelager

Die als Gefangene der Fremdherrschaft übergebene Iphigenie im griechischen Mythos sollte geopfert werden, um der politischen Sache zum Sieg zu verhelfen. Die Iphigenie bei Goethe dagegen sollte davon klagen, was es heißt, sich selbst der politischen Sache zu opfern. Und sie sollte zeigen, wie qualvoll und lebensbedrohlich der befreiende Weg zurück von der Klage zur Tat ist.

Als Staatsminister am Fürstenhof zu Weimar hatte Goethe sich von dem entfremdet, was ihn einst zum Dichter gemacht hatte. In seiner Not entschied er sich zur Flucht ins „Land, wo die Zitronen blühn“, wovon er in seiner „Italienischen Reise“ Zeugnis ablegt.

Ganz ähnlich erging es dem Schriftsteller Uwe Johnson, und mit ihm vielen anderen Kulturschaffenden der DDR, und darüber hinaus dem ganzen Staatsvolk. Sie alle waren dem mühsamen Frieden im Gleichgewicht der Kräfte des Kalten Krieges geopfert. Und sie alle standen vor der immerwährenden Frage der Selbstopferung oder der Flucht. In den 40 Jahren der deutschen Teilung entschieden sich rund 4 Millionen Menschen für die Flucht, was nach dem Mauerbau nur noch unter Lebensgefahr möglich war. Die in der Gefangenschaft Zurückgebliebenen gingen schließlich den Weg in die Leipziger Montagsdemonstrationen.

FRIEDENAUER EINZELLEID UND MARIENFELDER MASSENELEND
Uwe Johnson schildert in seinem noch in der DDR geschriebenen Roman „Ingrid Babendererde, Reifeprüfung 1953“, der erst 1985 veröffentlicht wurde, die seelische Not seiner von der Forderung nach Denunziation und Duckmäusertum geplagten Heldin, die schließlich in den „Goldenen Westen“ flieht. Auch nach seiner eigenen Übersiedlung in die Friedenauer Niedstraße, wo er von 1959 mit Unterbrechungen bis 1968 wohnte, blieb er der schreibende Zeuge der erlittenen Qual. So thematisiert er auch in den während dieser Zeit entstandenen Romanen „Das dritte Buch über Achim“ (1961) und „Zwei Ansichten“ (1965) sein Trauma DDR.
Die Verarbeitung der traumatischen Erfahrungen der Flüchtlinge war  aber besonders schwierig in den beengten Verhältnissen der Aufnahmelager, die in der Haupt-zeit des Flüchtlingsstroms oft nur notdürftig und Hals über Kopf eingerichtet wurden, weil niemand mit einem derartigen Ansturm gerechnet hatte. Das führte oft auch zu Spannungen mit der Nachbarschaft. Einerseits erschienen die Flüchtlinge hilfsbedürftig, weil sie alles zurückgelassen hatten. Andererseits erwartete die Aufnahmegesellschaft eine ordentliche, arbeitsame Lebensführung, der aber nicht nur die seelische Verfassung der Flüchtlinge, sondern auch die unerträgliche Last der Verhältnisse in den Lagern entgegenstand.

Wer die inzwischen historisch gewordene Zeit mit ihren Zumutungen noch einmal nachvollziehen möchte, der hat nun in einer umfangreichen Sonderausstellung im ehemaligen Notaufnahmelager Marienfelde noch bis zum 30. Dezember dazu Gelegenheit.

KLAGE UND HOFFNUNG
So ist dort zu erfahren, dass in den ersten Nachkriegsjahren die Flüchtlinge und Übersiedler noch als Konkurrenten um Arbeitsplätze, Wohnraum und Lebensmittel an-gesehen wurden, sodass noch 1951 fast zwei Drittel der Antragsteller im Notaufnahmeverfahren abgelehnt wurden. Erst Mitte der 50er Jahre sank die Ablehnungsquote auf 1 Prozent, denn das bundesrepublikanische Wirtschaftswunder ermöglichte nun die Integration.
Die Zustände in den zeitweise 80 bis 90 Auffanglagern, die in Fabrikgebäuden und Kasernen, in Baracken und Bunkern eingerichtet wurden, werden von Zeitzeugen in Tondokumenten geschildert. In Zeitungsmeldungen und auf Fotostrecken wird erlebbar, was es heißt, sich in Massenschlafsälen wenigstens ein bisschen Privatsphäre dadurch verschaffen zu müssen, indem der eigene Bereich durch aufgehängte Wäsche abgetrennt wird.

Aber die Ausstellung zeigt nicht nur die allgemeine Situation in den Lagern. Sie geht auch den Einzelschicksalen nach. Warum entschloss sich der Einzelne, die DDR zu verlassen, wie überwand er die Grenze, und was alles ließ er zurück? Die meisten Fluchtwilligen verschwiegen ihr Vorhaben selbst nahestehenden Menschen aus Angst vor Verrat. Erst von Westdeutschland aus schrieben sie in die DDR, um sich von Familie und Kollegen zu verabschieden, und um die Gründe für ihre Entscheidung zu erläutern. In einem der in der Ausstellung nachzulesenden Briefe heißt es:

„Ich halte vieles der in der DDR erklärten politischen Ziele für gut und richtig, glaube aber, dass die Art und Weise der Durchsetzung dieser Ziele die persönliche Freiheit und die Wünsche des einzelnen Menschen außer acht lässt.“

Die Fülle des hier präsentierten Materials ermöglicht ein gutes Verständnis dieser Zeit und ihrer furchtbaren Probleme. Und auch das Lebensgefühl im damaligen West-Berlin wird noch einmal lebendig, etwa wenn auf einem Bahnschild zu lesen ist:
„Achtung! S-Bahnreisende, warnt vor Eurem Aussteigen in Spandau Mitreisende (insbesondere Schlafende), da bei Weiterfahrt in Richtung Falkensee (Ostzone) Freiheitsentzug droht.“ Wie schön, dass man heutzutage auch in Zügen wieder durchschlafen kann.

Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde
Marienfelder Allee 66-80
Di bis So 10-18 Uhr

Ottmar Fischer

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