Hartmut Becker über seine Ausstellung „Indische Portraits“ im Nachbarschaftshaus Friedenau
2008 reiste ich auf Einladung eines befreundeten Paares, das seit Jahren in Indien lebt und arbeitet nach Chennai, der 8 Millionen-Hauptstadt des indischen Bundesstaates Tamil Nadu, wo meine Freunde zu dieser Zeit wohnten. Ich war im Februar gereist, wo die Temperaturen für Mitteleuropäer geradezu ideal sind, ganz im Gegensatz zum tropisch feucht-heißen Sommer, wo es in Chennai leicht einmal 35-40 Grad werden können. Als ich um Mitternacht aus dem Flughafengebäude trat, war ich sofort von einer lautstarken Menschenmenge umgeben, ihrerseits umtost vom noch lange nicht zur Ruhe gekommenen Verkehr. Alle schienen quicklebendig, nur ich selbst war müde vom langen Flug. Von einem Moment auf den anderen war klar, daß diese Kultur in vielerlei Hinsicht völliges Neuland für mich
darstellen würde.
Indien wurde in der Tat eine in jeder Hinsicht überwältigende Erfahrung. Dabei war ich keineswegs nur der kulturellen Sehenswürdigkeiten wegen gekommen, sondern um den indischen Alltag kennenzulernen, am Leben meiner Freunde teilzunehmen und intensiv all die Erfahrungen mitzunehmen, die ein 4-wöchiger Besuch mit bieten konnte. Natürlich kam auch die Kultur nicht zu kurz, aber das geschah eher en passant und wurde insofern integraler Teil meiner vielfältigen und abwechslungsreichen Unternehmungen.
Was mich am meisten beeindruckte, waren die Menschen in Indien selbst, ihre Präsenz, Offenheit und Neugier - und dies, obwohl die Möglichkeit zum sprachlichen Austausch eher selten und nur sehr eingeschränkt gegeben war. (Englisch ist eher die Sprache der Geschäftsleute, Verwaltungsbeamten, Akademiker und Dienstleistenden; die Unterhaltungen in den Familien und auf der Straße finden zumeist in einer der zahlreichen Regionalsprachen - in Chennai z.B. Tamil - statt, auch wenn Einige zumindest ein paar Brocken Englisch beherrschen.
Die in der Ausstellung gezeigten Portraits entstanden z.T. in Chennai, aber auch in Kovalam, Mysore und in Goa. Immer wieder war ich beeindruckt von der spontanen Bereitschaft vieler Menschen, sich von mir fotografieren zu lassen. Dabei war mir von Anfang an wichtig, nicht irgendwelche heimlichen Schnappschüsse zu machen, sondern mit meinem fotografischen Anliegen offen und direkt auf die Menschen zuzugehen. Auch wenn wir uns sprachlich in den meisten Fällen nicht verständigen konnten, entstand der nonverbale Kontakt recht mühelos und selbstverständlich. Bisweilen wurden, wenn ihnen die Fotos auf dem Digitaldisplay gefielen, Freunde und Bekannte hinzugerufen, die dann ebenfalls mit aufs Bild kamen.
Trotz oftmals bedrückender Lebensumstände verliefen meine Begegnungen mit den Menschen im indischen Süden in der Regel sehr entspannt. Die Inder haben, wie mir schien, deutlich weniger Probleme mit körperlicher Nähe, zudem spielt unser westlicher Individualismus in Indien eine sehr viel geringere Rolle, was sich eher positiv auf die Fähigkeit zu zwischenmenschlichen Begegnungen auswirkt.
Nicht zuletzt die Heiterkeit und Neugier von Kindern und Jugendlichen war immer wieder beeindruckend. Sofern sie Englisch sprachen, galt ihr Interesse zunächst immer dem „Where do you come from“ und „What´s your name?“, was freilich kaum verwunderlich war, da meine Freunde und ich oft die einzigen Europäer weit und breit waren - wenn man von dem sehr viel stärker touristisch geprägten Goa einmal absieht.
Dabei hatte ich im Vorfeld meiner Reise allerhand Bedenken gehabt. Indien war für mich nicht nur ein Land, sondern auch ein Mythos: aufgrund seiner alten Kultur, seiner Religion, seinen andersartigen Sitten und Gebräuchen - und nicht zuletzt den überaus farbenprächtig gekleideten und geschmückten Menschen, von denen viele gleichwohl in bitterster Armut leben, während die neuen Wahrzeichen des indischen Wirtschaftswunders allenthalben wie Pilze aus dem Boden schießen. Indien offenbarte sich mir als ein Land extremer Widersprüche; Glanz und Elend wohnen hier nah beisammen. Wie sollte ich damit klarkommen? Zumal im Vergleich mit unserem Lebensstandard die meisten Inder sich mit wesentlich weniger zufrieden geben müssen: 44% der Bevölkerung steht weniger als 1 Dollar pro Tag zur Verfügung, ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung ist zu arm, um sich eine ausreichende Ernährung leisten zu können. Gravierende Unter- und Fehlernährung sind trotz aller Fortschritte in den letzten Jahrzehnten noch immer ein weit verbreitetes Problem.
Dabei ist das Problem der Armut eng an die nach wie vor existenten Schranken des Kastenwesens gekoppelt, auch wenn sich zumal in den Großstädten die Grenzen nach oben allmählich aufzuweichen beginnen. Insbesondere die unterste Kaste der „Unberührbaren“ sowie der indigenen Ureinwohner, die zusammengenommen ca 300 Millionen Menschen - von 1,2 Milliarden Gesamtbevölkerung ausmachen, sind erheblicher sozialer Benachteiligung ausgesetzt.
Nicht wenige Menschen sind dazu gezwungen in zum Teil ärmlichsten Behausungen zu leben, ohne Licht sauberes Wasser und Sanitäranlagen, von für uns selbstverständlichen Errungenschaften der Technik ganz zu schweigen. Andere verbringen ihr Leben ganz und gar auf der Straße. Wohnung, gesichertes Einkommen, ärztliche Versorgung, liegen für sie in oftmals unerreichbarer Ferne.
Ein Großteil der Aufnahmen entstand in Chennai und Kovalam, einige in Mysore und auf Goa. Die meisten Begegnungen entstanden, während ich, zum Teil allein, zum Teil in Begleitung, durch die Straßen wanderte und dabei Straßenhändlern begegnete, Marktfrauen- und Männern, Jugendlichen, die ihren Nachmittag auf einer Bahnstation verbrachten, Restaurantpächtern, Müttern mit Kindern, etc.
Einige der Frauenportraits wurden in den Heimen von „The Banyan“, in Chennai und Kovalam gemacht. Dort werden im Rahmen eines NGO-Projekts Hunderte obdachlos gewordener und in völligem Elend von der Straße aufgelesener Frauen betreut und versorgt, um sie nach ihrer Genesung wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Im Rahmen eines kleinen Bildbands über eben dieses Projekt, hatte ich dort über mehrere Tage hinweg vielfältige Eindrücke festgehalten, wie sie verstörender aber auch berührender kaum hätten sein können. (Allerdings - auch das gehört zu Indien - ist das Buch noch immer nicht gedruckt. „Irgendwann wird es soweit sein, wenn Du es fast schon vergessen hast“, meinten die Freunde lächelnd.)
Zur Person.
Hartmut Becker, Jahrgang 1952, seit 18 Monaten (wieder) in Berlin lebender Fotograf. Hat nach mehreren Jahren der Selbständigkeit von 1991 bis 2010 an der Fachhochschule Trier, Fachrichtung Edelstein- und Schmuckdesign in Idar-Oberstein, unterrichtet und fotografiert.
Darüberhinaus Projekte im Bereich der Portraitfotografie, Reportage, Jazz- und Theaterfotografie. Die letzte Ausstellung fand in Köln zum Thema „Männerschmuck“ statt.
Zur Ausstellung.
Indische Portraits
13. März bis 27. April
Nachbarschaftshaus Friedenau
Holsteinische Straße 30, 12161 Berlin
Öffnungszeiten Mo-Fr 10-18 Uhr