Gewonnen und zerronnen

Derlei krisenhafte Entwicklungen sind aber ständig wiederkehrende Begleiterscheinungen im Verlauf von Konjunkturen mit ihren Hochs und Tiefs, die immer dann aus dem Ruder zu laufen drohen, wenn in der Erwartung zukünftiger Gewinne mehr Kredite für Investitionen aufgenommen werden, als in abflauenden Konjunkturzeiten mit ihrer nachlassenden Nachfrage nach den hergestellten Produkten zurückgezahlt werden können. Allerdings werden solche Krisen auch nur dann wirklich gefährlich, wenn die bedrohliche Lage allgemeinen Charakter annimmt, und nicht wie bei der Investitionsruine Steglitzer Kreisel zu den bedauerlichen Einzelfällen gerechnet werden kann.
Ein solcher Investitions-Boom mit nachfolgendem Niedergang ereignete sich auch in der sogenannten Gründerzeit nach der Entstehung des Kaiserreichs 1871, als Berlin zur Hauptstadt wurde und einen gigantischen Bevölkerungszuwachs verzeichnete, der schnell auch die damaligen Vororte Charlottenburg, Wilmersdorf und Schöneberg erreichte. Im Jahre 1905 lebten in der zur Stadt gewucherten Schöneberger Dorf-Gemarkung bereits 140.000 Menschen, womit sich die Einwohnerzahl innerhalb von 10 Jahren mehr als verdoppelt hatte und innerhalb von 30 Jahren um das Zwanzigfache angewachsen war. Für all die zuziehenden Menschen wurden nicht nur Wohnungen und Kleidung, sondern auch Lebensmittel und Güter des sonstigen Bedarfs benötigt, es entstanden Fabriken und Zulieferbetriebe, sodass auch riesige Verkehrsflächen für Straßen, Eisenbahnen und Schifffahrt bereitgestellt werden mussten, denn Menschen wie Güter mussten tagtäglich transportiert werden.Wie stets in solchen Zyklen gab es auch damals Gewinner und Verlierer, denn dem rasanten Aufschwung folgte bereits nach drei Jahren der erste Abschwung, sodass die ursprünglichen Besitzer von Grund und Boden die sichersten Profiteure wurden. Der Zeitzeuge Paul Voigt schildert die Entwicklung 1901 folgendermaßen:
„Auf die intensive Terrainspekulation in den Gründerjahren, welche die Bodenpreise mit einem Ruck um das 10-50-fache des Ackerwertes emportrieb, folgte von 1875 an eine Zeit des ruhigen Fortschritts der Umgegend, des vollständigen Stillstands der Spekulation und niedrigerer Bodenpreise. 1887 beginnt dann eine neue Spekulationsära, die seitdem ununterbrochen bis in die Gegenwart angehalten hat und durch die Verpflanzung des Massenmiethauses in die rasch anwachsenden Vororte sowie durch eine maßlose Steigerung der Bodenpreise charakterisiert ist.“
Die Bodenspekulation verlor schließlich jeden Zusammenhang mit der realen Bedarfslage, sodass nicht nur bestehende und neu gegründete Terraingesellschaften im Abschwung in die Pleite gerieten und kreditgebende Banken ins Straucheln, sondern auch private Bauherren angesichts der parallel zu den Bodenpreisen rasant angestiegenen Löhne für Bauhandwerker und der explodierenden Preise für die benötigten Baumaterialien aufgeben mussten, wodurch so manches Vorhaben als Bauruine jahrzehntelang als unverkäuflich liegen blieb.
Der Schöneberger Goldrausch
Ein besonders erfolgreicher Baulöwe dieser Zeit war Georg Haberland, dessen Berlinische Bodengesellschaft sich nicht wie die meisten anderen Terraingesellschaften darauf beschränkte, den erworbenen Boden zu parzellieren und an interessierte Baugesellschaften mit Gewinn weiter zu verkaufen, sondern dort selbst baute. Mit dem von seiner Gesellschaft errichteten Bayrischen Viertel gelang ihm sogar die Gestaltung eines ganzen Stadtquartiers, an dem nicht nur die vereinheitlichte Anlehnung an tradierte Bauelemente für Aufsehen bis ins entfernte Alt-Berlin sorgte, sondern der erst 1898 entstandenen Stadtgemeinde Schöneberg auch kaum Erschließungskosten abverlangte, denn seine Baugesellschaft baute selbst die Straßen und Plätze um den Viktoria-Luise-Platz mitsamt den preisgekrönten Grünanlagen auf eigene Rechnung.
In seinem Erinnerungsbuch „Aus meinem Leben“ von 1931 schildert er neben dem Ehrgeiz der Stadtvorsteher, durch attraktive Wohnungsangebote zum Anziehungspunkt für wohlhabende Steuerzahler zu werden, auch das Verhandlungsgeschick der bäuerlichen Bevölkerung von Alt-Schöneberg, von der einige zwar am althergebrachten Landleben festhalten wollten, andere aber mit der sprichwörtlich gewordenen Bauernschläue am ausgebrochenen Spekulationsfieber teilhaben wollten. So erhielt das Grundstück mit dem lange Zeit erhalten gebliebenen Bauernhaus der Familie Hewig in der Hauptstraße 23/24 in der Bevölkerung den teils spottenden und teils anerkennenden Namen „Pietätsecke“, die Verkäufer ihrer jeweils mit hohen Gewinnen veräußerten Grundstücke aber den Namen „Millionenbauern“. Haberland erzählt dazu in seinem Buch die folgenden Geschichte:
„Wir brauchten einmal neun zusammenhängende Geländestreifen. Einer davon gehörte Fritz Heil, seines Zeichens Standesbeamter und stellvertretender Gemeindevorsteher in Schöneberg. Keiner hat es besser verstanden als er, unsere Zwangslage auszunutzen. Wir hatten schon alles mündlich miteinander verabredet, er hatte mir selbst die einzelnen Grundstücke besorgt. Als es aber zum notariellen Abschluss des Vertrages kommen sollte, schrieb er ab, seine Kinder willigten in den Verkauf des Grundstücks nicht ein. Jedoch hat er noch am gleichen Abend dem Weinhändler, bei dem er kneipte, eine Anstellung für das Grundstück gegeben zu einem um 50.000 Mark höheren Preis als er es mir mündlich verkauft hatte. Ich hatte geglaubt, mich auf das Wort eines Beamten und stellvertretenden Gemeindevorstehers verlassen zu können, er aber äußerte freimütig, einem Juden brauche man das Wort nicht zu halten. Es blieb nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen, dem Weinhändler das Grundstück abzukaufen. Dem Ansehen von Heil hat dieser Wortbruch übrigens nicht geschadet. Für mich war die Lektion zwar teuer, aber lehrreich.
Der alte Sarre war Eigentümer eines anderen, zu derselben Transaktion gehörenden Streifens. Heil hatte, bevor er seine häßliche Handlung beging, mit ihm für mich verhandelt. Sarre war jedoch nicht zum Verkauf zu bewegen, und so ging ich eines schönen Tages persönlich zu ihm. Er stand auf seinem Hofe mit der Mistgabel und der blauen Schürze. Ich fragte: „Wohnt hier Herr Sarre?“ „Jawohl“, sagte er, „hier is er, wat wollen Se denn von ihm?“ Ich sagte: „Ich heiße Haberland und möchte ihn mal sprechen.“ „Wat denn, wat denn, sind Sie denn der Haberland selbst?“ „Ja“, war die Antwort. „Na denn kommen Se man rin“. Sarre offerierte mir Zigarren, das Stück etwa zu anderthalb Pfennig, und selbstgebrautes Bier und erklärte mir, daß er die Wiese nicht verkaufen wolle. Er wolle auch mal den Abdruck haben. Den „Abdruck“ hat nämlich derjenige, der mit dem Verkauf bis zuletzt wartet und dann den Käufer abwürgt, weil er das Grundstück unbedingt haben muß. Ich erklärte mich bereit, ihm denselben Preis zu zahlen, den alle seine Nachbarn bekämen und ihm auch die notariellen Verträge vorzulegen, das nützte aber alles nichts. Er meinte: „Ich kenne doch Fritzen, Fritze verkauft doch nicht, wenn er nicht den Abdruck hat!“ Ein ahnungsvoller Engel! Fünf- bis sechsmal mußte ich den alten Sarre aufsuchen, bevor er sich entschloß, mir seine Wiese zu verkaufen. Er meinte: „Sehn Se mal, das ganze Jahr kommt zu mir Mistbauern kein Mensch. Sie plaudern so nett mit mir und erzählen, was in der Welt passiert, wenn Sie die Wiese haben, gucken Sie den alten Sarre überhaupt nicht mehr an, dann kann er Ihnen nichts mehr nützen. Nun kommen Se man noch ein paarmal her, dann sollen Sie die Wiese haben.“ Und so kam es denn auch.“
Nachdem alle Schöneberger Landsassen ihre Äcker, Wiesen und Weiden verkauft hatten, bauten sich viele von ihnen am alten Dorfanger, der heute von der Hauptstraße eingenommen wird, von den Erlösen und Gewinnen neue Häuser und Villen, die aber sehr schnell ebenfalls wieder in das anhaltende Spekulationsfieber gerieten und einträglichen Mietshäusern weichen mussten. Nur die heute im Staatsbesitz als Schöneberg-Museum, kommunale Jugendfreizeitstätte und als Sitz des Polizeiabschnitts 42 genutzten Prachtvillen neben der alten Dorfkirche haben die Stürme der Zeiten überstanden, sowie das säulengeschmückte Stadthaus auf der anderen Straßenseite, das heute von einer Baptisten-Gemeinde genutzt wird. Auf dem alten Dorffriedhof erinnern dagegen an imposanten Mausoleen bis heute die Namen der stolzen Bauernfamilien, deren einstiger Besitz sich in Geld aufgelöst hat.