Zur Orientierung für Menschen mit Behinderungen

Freizeit und Kultur im Nachbarschaftsheim

26.11.2013 / Orte und Plätze

„Friedenau erzählt / Entlang der Rheinstraße - 1945-1963"

Die edition Friedenauer Brücke hat uns wieder erzählen lassen, die wir es noch erlebt haben, das alte Friedenau.

1874, als Friedenau auf dem Reißbrett entstand, waren wir zwar noch nicht dabei, wohl aber zur sogenannten Stunde Null. Und um die geht es in dem neuen Buch „Friedenau erzählt 1945-1963“, das wir uns nun auf den Weihnachtstisch legen können. Wie ist es hier zugegangen, als unsere Stadt in Trümmern lag, als erst die Russen kamen und dann die Amerikaner und als langsam wieder das sogenannte normale Leben begann? Man solle uns befragen, so lange es uns noch gibt, heißt es immer etwas makaber. Evelyn Weissberg und Hermann Ebeling haben es getan, und wir haben gern Auskunft gegeben, haben erzählt, wie es damals war: Elend und Trümmer, Leid und Verluste; aber auch Galgenhumor, Spiele in den Ruinen und die Hoffnung auf bessere Zeiten. Ganz unterschiedliche Geschichten haben die Zeitzeugen zu erzählen.

Manche hatten keine Bleibe mehr, anderen war die Wohnung erhalten geblieben. Die damals Jugendlichen hatten schon eine andere Sicht auf die Dinge, waren mehr in die tägliche Versorgung eingebunden als diejenigen, die noch Kinder waren und gar keine friedlichen, normalen Zeitläufe kannten. Das waren die kleinen Jungs, die man als Fünfzehnjährige gar nicht wahrnahm, höchstens als lästige kleine Brüder und die heute auch schon ältere Herren sind. Die tobten gern in den Ruinen herum, während wir größeren Mädchen einen Grund brauchten, um uns noch auf solche Abenteuer einlassen zu können, Holz- oder Buntmetall-Sammeln zum Beispiel. Meist sind es die „kleinen Jungs“ von damals, die hier über ihre Kindheit berichten. Mädels, wo seid ihr hin, Inge, Helga, Ursel, Gisela, Renate? Habt ihr nichts zu erzählen? Wir waren doch so viele, ihr könnt doch nicht alle schon gestorben sein!

Viele Geschichten also, die den Nachgeborenen einen Eindruck davon vermitteln, wie man sich damals durchschlug und über die Runden kam und die zeigen, wie dünn die Decke der Zivilisation ist, wenn es ums nackte Überleben geht: es wurde geplündert und Nachbars Konzertflügel verheizt, und Flüchtlinge waren auch in Friedenau nicht gern gesehen. Man erinnert sich und kann manches selbst nicht mehr fassen.

Aber dabei blieb es ja nicht. Die Trümmerfrauen räumten die Stadt auf, das Wirtschaftswunder zog, wenn auch zögernd, selbst in West-Berlin ein, es wurde gekauft und gefeiert. Wir wurden mit den Jahren erwachsen, studierten, arbeiteten, heirateten und gründeten Familien und trugen unseren Teil bei zu einer allmählichen Normalisierung des Lebens. Auch davon wird viel erzählt in diesem Buch. Fotos kommentieren die Texte und geben ein anschauliches Bild vom Leben in Friedenau in den Jahren 1945 bis 1963, ebenso wie eingestreute Berichte des Steglitzer Lokal-Anzeigers über Erwähnenswertes in unserem Kiez. Auch Ingeborg Drewitz, Hildegard Knef und Friedrich Luft kommen zu Wort.

Doch es gibt ja noch einen zweiten Titel: „Entlang der Rheinstraße 1945-1963“. Wir merken: es sind zwei Bücher in einem, ein Geschichtenbuch und ein Bilderbuch! Drehen wir das eine um, haben wir plötzlich ein anderes in der Hand. Der Bildband führt uns die Rheinstraße seit Kriegsende in drei Etappen vor: Zwischen Rathaus und Innsbrucker Platz – Entlang der Rheinstraße – Rund um den Walther-Schreiber-Platz. Auf mehr als 160 Fotos können wir eine Zeitreise zwischen 1945 und 1963 unter-nehmen, können die Wiederauferstehung des zerstörten Rathauses betrachten und die von Rhein- und Hauptstraße, ärmlich und abgerissen gleich nach Kriegsende mit den alten Straßenbahnwagen und seltsamen Automobilen, die auch noch ihre Verkehrsunfälle verursachten. Wir erleben die ersten Markttage auf dem Lauterplatz, wo Frauen Brennbares aus den Abfällen heraussuchen - kleine Brötchen gegen einen Konzertflügel! - die Wandlungen des Rheinecks, das dann irgendwann Walther-Schreiber-Platz getauft wurde, und last but not least die große Kennedy-Parade 1963, die auch durch die Rheinstraße kam und die Menschen zusammenlaufen ließ und auf die Balkons trieb.

So also hat unser Friedenau einmal ausgesehen? Die edition Friedenau-er Brücke zeigt es uns, es lohnt sich anzusehen und nachzulesen! Am 6. Dezember, dem Nikolaustag also, wird das wieder schöne und interessante Buch um 20.30 Uhr in der Buchhandlung Thaer in der Bundesallee 77 vorgestellt. Mit Lesung!

„Friedenau erzählt“ / „Entlang der Rheinstraße“ - 1945-1963
ISBN: 978-3-9816130-0-1
316 Seiten, gebunden mit über 250 Abbildungen in duotone

Sigrid Wiegand