Ein Streiter für den Comic
Schon als Kind entwickelte sich seine Leidenschaft für gezeichnete Bildergeschichten. Als 1951 das erste Heft der Zeitschrift „Micky Maus“ erschien, war er gerade 4 Jahre alt und sein Vater, ein Maler, schenkte es ihm.
Damals war man gegenüber diesen gezeichneten Erzählungen sehr skeptisch. Ich kann mich gut erinnern, wie meine Eltern die sich entwickelnde Comicleidenschaft meines älteren Bruders misstrauisch verfolgten und nicht wollten, dass auch wir Mädchen von dieser Leidenschaft ergriffen wurden. Sie bekamen Unterstützung von meiner Deutschlehrerin, die in Sorge war, ob ich richtig Schreiben lernen würde, wenn ich von der Sprechblasensprache, den Achs und Ohs und Huuras infiziert werden würde. Ich lernte artig die Anführungszeichen setzen, liebte es aber, meine Figuren auch in den Aufsätzen sprechen zu lassen.
Stefan ließ sich nicht von der Skepsis gegenüber dem Comic beeinflussen und begann mit dem Sammeln von Comics. Vor allem interessierten ihn die Comics, die sich im Grenzbereich zwischen Bildender Kunst und Comic bewegten, seltene Kunstbücher des New Yorker Malers David Sandlin, die er in Antiquariaten in Paris aufspürte, Comic Experimente der Künstlergruppe Oubapo aus Frankreich und das Schweizer Büli-Box-Projekt. Er vermachte seine Comicsammlung dem Deutschen Comicverein, den er 2014 mitbegründete.
Als ich Stefan Neuhaus in einer Wohngemeinschaft am Großen Wannsee kennenlernte, waren er und andere Bewohner, die Kunst studierten, dabei ihre Examensarbeiten für die Hochschule der Künste abzuschließen. Stefan malte eine riesige Waldlandschaft, in der gerade die Sonne unterging, sie war ein wenig kitschig, aber ich vergesse sie nie. Andere Examensstudenten schufen dicke Hintern aus Stoff, Stein, Moos und Plastik oder entwarfen Bühnenbilder. Beeinflusst von der linksradikalen politischen Szene, war die Zeit am Wannsee eine Zeit des Aufbruchs und der Lebenslust.
Wie viele Bewohner der Kommune am Wannsee bekam Stefan Berufsverbot, weil wir Anhänger des Kommunistischen Studentenverbandes waren. Zum Glück stellte ihn das katholische Canisius-Kolleg als Kunstlehrer an, es wäre sonst ein wunderbarer Kunstlehrer verloren gegangen. Als die Zeit der Berufsverbote endlich vorbei war, wurde er Kunstlehrer am Leonardo-da-Vinci-Gymnasium in Neukölln. Kunstunterricht machte er mit Donald Duck, ließ Leporellos anfertigen und spielte mit Essen. Stefan setzte sich engagiert mit politischen Auffassungen auseinander und unterstützte zeitlebens die Dinge, die er für richtig hielt, auch wenn er in der Minderheit war oder es Mut erforderte.
Als Vorsitzender des Fachverbandes für Kunstpädagogik organisierte er Fortbildungsveranstaltungen, wie Comics in Geschichte und Deutsch, Politik und Kunst im Unterricht eingesetzt werden konnten, sehr zum Vergnügen der Schülerinnen und Schüler. Auch meine Schüler:innen liebten es „Der Richter und sein Henker“ von Dürrenmatt oder„Die Bürgschaft“ von Schiller in Comics umzusetzen.
Stefan war immer zu einem Rat bereit, überlegte, was sich wie machen ließ und vor allem wie. Er war ein leidenschaftlicher Kunstlehrer, Experimentierer, konnte begeistern, war ein zuverlässiger und inspirierender Freund und offen für alles Neue. Man konnte mit ihm lachen, diskutieren, streiten und reisen. Mit ihm geht mir ein wichtiger Freund meines Erwachsenenlebens verloren. Ich werde ihn vermissen.
Nach seiner Berufstätigkeit wurde sein zentrales Forum der Deutsche Comicverein. Er setzte sich mit seinen Mitstreitern dafür ein, dass ein mit 63.000 Euro dotiertes Comic-Stipendium für junge Comic-Zeichner des Landes Berlin eingerichtet wurde, das zum Vorbild für Comic-Stipendien auch in anderen Bundesländern wurde, organisierte Ausstellungen und Fortbildungen für Comic-Maler:innen.
Gemeinsam mit anderen Streitern für den Comic verfasste er 2013 ein Comic-Manifest. Als Vorsitzender des Comicvereins reiste er zum Festival International de la Bande Dessinée d`Angoulême in Frankreich und stellte im comicbegeisterten Frankreich deutsche Comic-Künstlerinnen und Künstler vor. Wenn er in unserer Sportgruppe im Nachbarschaftsheim Schöneberg fehlte, dann wussten alle, dass er in Sachen Comic durch die Welt reiste.
Der Comic, den ich diesem Nachruf anfüge, stammt von seiner Tochter Merit Neuhaus, die ihn mit 11 oder 12 Jahren zeichnete. Er ist nicht nur eine Homage an ihren Vater, sondern eine Homage an alle Väter und berührt mich noch heute.