Ein Sommer vor 50 Jahren
Wir fuhren am frühen Morgen in seinem „Mosquitsch“ in die nächste Garnisonstadt, wo Russen stationiert waren. Mein Onkel wollte anfragen, ob er kurzfristig, da bestes Erntewetter war, Soldaten als Erntehelfer bekommen könnte? Bisher klappte es fast immer.
Es war ein sehr kurzes Gespräch gewesen, recht schnell kam er zurück. Etwas missmutig, sowohl irritiert, schweigend stieg er ins Auto. Jedoch nicht aufs Gut ging es, sondern sofort auf Felder zu den Mitarbeitern, die schwitzend auf ihren Erntemaschinen saßen, riesigen Mähdreschern. Er hatte den Auftrag erhalten, den Arbeitern 1. zu sagen, dass es keine Erntehelfer gibt und 2., warum nicht: da in OST–BERLIN in der Nacht begonnen wurde, eine Mauer als Grenzwall zu bauen. Ob es sofort verstanden wurde? Ich glaubte es kaum. Zum einen waren die Maschinen sehr laut, zum Anderen waren die Arbeiter unter Zeitdruck, wollten sie doch so viel wie möglich von der Ernte einfahren, bei dem herrlichen Wetter. Meinem Onkel war die Reaktion in dem Moment sicherlich recht, es gab keine Diskussionen. Die anschließende Fahrt dauerte lange, gut, dass der „Mosquitsch“ so ausgelegt war, eine tolle Federung hatte.
Spät fuhren wir dann aufs Gut, er sagte kurz seiner Familie, warum er so spät kam. Sofort musste er zu einer Sitzung mit der Kreisleitung. Wir hörten in der Familie nach und nach Einzelheiten übers Radio, sowie am Abend im DDR Fernsehen. Natürlich war uns klar, dass etwas Besonderes geschehen war. Da es vorerst nur Berlin betraf, wirkte es auf uns nicht wirklich bedrohlich. Ich fühlte mich sehr sicher bei den Verwandten. Was wohl in den Köpfen / Herzen meiner Eltern vorging? Waren doch mein Vater und mein Bruder Offiziere bei der Bundeswehr, also in der feindlichen Armee. Noch ein paar Tage blieb ich in der DDR, konnte dann ungehindert wieder ausreisen. Meinen Onkel sah ich kaum, jetzt musste er immer wieder seinen Arbeitern erklären, warum eine Mauer gebaut worden war. So richtig einordnen, was geschehen war, habe ich erst nach meiner Rückreise können.
Als ich mit meiner eigenen Familie, beruflich bedingt, 1973 nach Westberlin zog, habe ich konkret und unmittelbar erlebt, was er für Berliner in OST und WEST bedeutet hatte: DER BAU DER MAUER. Nicht zu vergessen die Mauertoten und ihre Angehörigen. Als ich zur Beerdigung meines Onkels in der DDR war, im Mai 1989, wagte ich die Voraussage, dass bis zum Jahr 2000 die Mauer fällt, natürlich wurde ich belächelt von Bürgern beider Staaten.
Noch gerne erinnere ich mich all der Verwandten und Freunde, als diese an unserem Küchentisch saßen und mit uns gemeinsam sich freuten, dass die Mauer überwunden, einfach weg war.
Ernst Karbe