Die Macht im Bezirk ist neu verteilt


Das Wesen demokratischer Verhältnisse besteht in der Teilung der Macht, dessen Gegenteil die Vereinigung der Macht darstellt, wie sie etwa gerade in der Türkei stattfindet. Und das gilt nicht nur für den Staatsaufbau, sondern auch für die Zusammensetzung der Parlamente als den Organen der Gestaltung und der Kontrolle staatlichen Handelns. Deswegen finden freie Wahlen statt. Deswegen haben die gewählten Parteien den Auftrag, die politische Willensbildung so zu organisieren, dass darin der Wählerwille sich wiederfindet. Und um das sicherzustellen, sind die Verfahren zur Willensbildung gesetzlich geregelt. Insoweit besteht weitgehend Deutungs-Übereinstimmung. Doch wie auch sonst im Leben, steckt der Teufel auch hier mal wieder im Detail.
Seit 1998 bestimmt das Landeswahlgesetz für die Sitzverteilung in den Bezirksverordnetenversammlungen die Anwendung des Höchstzahlverfahrens nach d'Hondt, einem belgischen Juristen (1841-1901). Dabei werden die für die einzelnen Parteien abgegebenen Stimmen so lange nacheinander durch 1, 2, 3, usw. geteilt, bis die für die BVV festgelegte Anzahl von 55 Sitzen durch die jeweils ermittelte Stimmen-Höchstzahl bestimmt ist. Auch der damaligen Parlamentsmehrheit im Land aus CDU und SPD war bekannt, dass dieses Verfahren tendenziell die größeren Parteien begünstigt, weswegen Mathematiker und Juristen neue Lösungsmethoden entwickelt haben, z.B. Hare-Niemeyer, deren Verfahren bis dahin auch in Berlin zur Anwendung gekommen war. Doch glaubten die Mehrheitsparteien durch den Wechsel jenes Stück Handlungsfähigkeit sicherzustellen, das sie durch die gleichzeitige Herabsetzung der Prozenthürde auf 3% für gefährdet hielten. Entsprechend ließ sich der Ab-geordnete Landowski (CDU) in der damaligen Debatte vernehmen: „Das verhindert, dass Radikale, Exoten oder – wie in Kreuzberg nachher – auch noch Verrückte in die BVV einziehen.“
Gerechtigkeit als Zahlenwerk
Wie Sebastian Richter als Fraktionsvorsitzender der mit 6 Verordneten neu in die BVV eingezogenen AfD am Rande der zur Bezirksamtswahl einberufenen Versammlung gegenüber der Presse erläuterte, hält seine Fraktion diese Vorsicht der damaligen Akteure für übertrieben und in ihrer Wirkung für demokratiefeindlich, weswegen sie noch am Vortag der Sitzung beim Landesverfassungsgericht Beschwerde gegen die Verwendung dieses vorgeschriebenen Verfahrens eingelegt habe. In dem dieser Zeitung vorliegenden elfseitigen Wahlprüfungsantrag wird gefordert, einerseits die Sitzverteilung neu festzulegen, andererseits der SPD einen Sitz abzuerkennen, sowie drittens und hilfsweise das Verteilungsverfahren für mit der Landesverfassung nicht vereinbar zu erklären. Denn es verstoße „gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl und Chancengleichheit der Parteien“.
Als Beschwerdeführer auch in eigener Sache und Verfahrensbevollmächtigter macht Rechtsanwalt U. W. Kasper darin geltend, dass ihm selbst bei Anwendung des bis 1998 praktizierten Hare-Niemeyer-Verfahrens, das bis heute unverändert bei der Sitzverteilung im Landesparlament zur Anwendung kommt, als dem auf Platz 7 der AfD-Liste gesetzten Kandidaten jenes Mandat zugefallen wäre, das nun der SPD zugute gekommen ist. Nach Hare-Niemeyer wird die Wählerstimmenzahl für jede Partei mit der Anzahl der Mandate multipliziert (in unserem Fall : 55) und sodann durch die Zahl aller gültigen Stimmen dividiert. Jede Partei erhält so viele Sitze, wie die Zahl vor dem Komma ausweist; die verbleibenden Restsitze werden in der Reihenfolge der höchsten Zahlen hinter dem Komma vergeben.
In der Beschwerde weist die AfD aber noch auf einen weiteren mathematischen Unterschied von demokratietheoretischer Bedeutung hin: Bei d´Hondt brauchte die AfD 3.057 Stimmen für einen Sitz, die SPD aber nur 2.710, was eine Differenz von 327 Stimmen ausmacht. Bei Hare-Niemeyer dagegen ergäbe sich eine Differenz von 320, also 0,02% weniger. Ob dieser Unterschied gerechtigkeitsrelevant ist, zumal auch im Vergleich mit anderen Ergebnisdifferenzen, wird das Verfassungsgericht entscheiden müssen.
Doch eins steht jetzt schon fest: Würde der Beschwerde stattgegeben, hätte das mächtige Konsequenzen. Die am Vormittag des Sitzungstages im Rathaus zwischen SPD und Grünen unterzeichnete Vereinbarung zur Bildung einer Zählgemeinschaft mit Verabredungen für gemeinsame Vorhaben wäre bedroht. Denn ihre Mehrheit in der BVV besteht aus genau jener einen Stimme, die die SPD bei Beschwerdeerfolg an die AfD verlöre. Sie wäre also auf einen weiteren Partner angewiesen oder müsste auf wechselnde Mehrheiten hoffen. Im Erfolgsfall stünde der AfD sogar ein Stadtratsposten zu, und diesen Posten hätten dann die Grünen zu räumen. Ein Eilantrag der AfD zur Aussetzung der Wahl dieses 4. Stadtrats bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren wurde allerdings vom Verfassungsgericht telefonisch und per Fax während der deswegen unterbrochenen Sitzung abgewiesen.
Die Bezirksamtswahlen
Die alte Bürgermeisterin Angelika Schöttler (SPD) wurde mit 31 Ja-Stimmen gegen 24 Nein-Stimmen wiedergewählt, also mit nur 3 Stimmen jenseits von Rot-Grün, und hat auch weiterhin die Aufsicht über Finanzen und Personal. Als Stellvertreter und Baustadtrat wurde der bisherige Fraktionschef Jörn Oltmann (Grüne) mit 36x ja und 15x nein bei 4 Enthaltungen gewählt. In seinen erweiterten Aufsichtsbereich fallen erwartungsgemäß auch die Stadtentwicklung und die sozialräumliche Koordinierung. Als Stadträtin für Weiterbildung und Kultur wurde Jutta Kaddatz (CDU) mit 35x ja gegen 13x nein bei 7 Enthaltungen wiedergewählt. Im Machtgerangel der Parteien verlor sie allerdings das Schul- und Sportamt. Hinzu kam dafür das Amt für Soziales. Oliver Schworck (SPD) übernahm mit 37x ja gegen 16x nein bei 2 Enthaltungen zu seinen bisherigen Aufgaben in den Bereichen Jugend, Umwelt und Natur das Schul- und Sportamt, sowie das Gesundheitsamt und gab seinerseits das Amt für Bürgerdienste und Ordnung sowie das Straßen- und Grünflächenamt ab. Diese Ämter gingen an die neu in die Verantwortung gewählte beamtete Umweltplanerin Christiane Heiß (Grüne). Sie erhielt 32 Ja-Stimmen gegen 23x nein.
Die Sitzung endete mit der Ernennung und Vereidigung der fünf Bezirksamtsmitglieder und der Verabschiedung der beiden scheidenden Stadträte Dr. Sybill Klotz (Grüne) und Daniel Krüger (CDU). Im vollbesetzten Zuschauerbereich waren neben vielen Verwaltungsangestellten, die gespannt die Wahl ihrer Führung beobachteten, auch viele Ehemalige und Aktive aus dem Politik-Betrieb zu sehen, so auch der ehemalige Bürgermeister Hapel (CDU). Alle schienen am Ende erleichtert.
Ottmar Fischer