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06.09.2015 / Menschen in Schöneberg

Christian H. Freitag: Ritter, Reichsmarschall & Revoluzzer

Aus der Geschichte eines Berliner Landhauses Herausgegeben von Hermann Ebling und Evelyn Weissberg edition Friedenauer Brücke
Hans Magnus Enzensberger an der Eingangspforte Fregestraße 19 um 1970. Foto: ©Wilfried Bauer/Focus
Foto: ©Christian H. Freitag, Fregestraße 19 um 1972
Buchcover

Eine beliebige Adresse könne den Blick auf ein ganzes Bündel von merkwürdigen Geschichten freigeben, mutmaßt Hans Magnus Enzensberger in seinem Vorwort zu diesem Buch, in dem er als ehemaliger Besitzer des Hauses Fregestraße 19 einen Blick auf längst vergangene Zeiten wirft. Aber so beliebig ist diese Adresse ja nicht, und sicherlich bietet nicht jede der noch vorhandenen alten Stadtvillen aus den Geburtsjahren von Friedenau eine derartige Fülle von Skandalen, Aufregungen und denkwürdigen Ereignissen.

Erbaut 1886 von einem der damals sich zahlreich vor den Toren Berlins tummelnden Grundstücksspekulanten namens Roesner, der es nach Fertigstellung gewinnbringend an einen Kaufmann Ockelmann verkauft. Zehn Jahre später geht es an einen weiteren Spekulanten, den Stabsarzt a.D. Hermann Epenstein, und hier beginnt die Geschichte des kleinen Friedenauer Landhauses interessant zu werden und aus dem geruhsamen Friedenauer Alltag herauszuragen. Epenstein trat mit diesem Kauf nämlich als Gönner einer befreundeten Familie auf, die er standesgemäß unterbringen wollte – die Familie des Reichskommissars Dr. Göring, Vater des späteren „Reichsmarschalls“ Hermann Göring.

Hermann Göring verbrachte also zwei Jahre seines Lebens als Friedenauer Kind! Seine Eltern führten ein glänzendes gesellschaftliches Leben in Friedenau, das nicht ganz standesgemäß eine ménage à trois zwischen seinen Eltern und Epenstein einschloß. So etwas kommt eben in den besten Familien vor.
Der Stabsarzt a.D. war jedoch auch Besitzer einer Burg im Fränkischen, und 1898 folgte die Familie Göring seiner Einladung, dort wohnen, und das Friedenauer Interregnum hatte ein Ende. Epenstein selbst ist nur noch selten im Friedenauer Domizil. 1935 verkauft seine Witwe das Haus an ein Ehepaar, das in der Hedwigstraße ein Geschäft für Tapeten, Linoleum, Läufer usw. besitzt und die Fregestraße 19 in ein Mietshaus mit mehreren abgeschlossenen Wohnungen umwandeln lässt. Die Zeit von Ritter und Reichsmarschall ist vorbei, die Revoluzzer folgen.

Ein neuer prominenter Besitzer erwächst dem Haus in dem Dichter und Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, der 1964 einen West-Berliner Wohnsitz sucht. Neue, aufregende Jahre beginnen im biederen Friedenau, die APO-Zeit wirft ihre Schatten voraus. Man kann jetzt Rudi Dutschke hier treffen, Gaston Salvatore, Peter Schneider, Horst Mahler, Christian Semler - viele bekannte Namen, eine andere crème de la crème als 1897! Der zehn Jahre ältere Enzensberger wird zu einer Art Mentor für die politisch aktiven Studenten. Mit ihren Grabenkämpfen hat er nichts am Hut, bietet ihnen jedoch ein Diskussionsforum. Darüber hinaus entstehen in Friedenau einige seiner bekanntesten Werke.1978 macht sich der umtriebige Künstler wieder vom Acker und verkauft das Haus an einen Herrn Spiller, der es heute noch besitzt und in einem Nachtrag launig über seine erste Begegnung mit der Fregestraße 19 und seinem letzten prominenten Bewohner berichtet.
Ein alter Korbsessel im Haus hatte mit seltsamem Knarzen den Autor des Buches, der selbst Bewohner der Fregestraße 19 gewesen ist, nachdem Enzensberger die Kommune 1 rausgeworfen hatte, die sich während seiner Abwesenheit dort etabliert hatte zum Erzählen aufgefordert. Er schildert ausführlich sowohl die frühen Friedenauer Jahre mit ihren Entwicklungen, hat die Baupläne des Hauses ausgegraben und erzählt Interessantes über die Familien Göring und Epenstein, die Ära Enzensberger und das Leben in unserem Bezirk während der Zeit von Nationalsozialismus und Nachkrieg.

Die edition Friedenauer Brücke hat mit diesem Buch noch eine neue Facette von Friedenau entdeckt und herausgebracht, es mit vielen Fotos aus dem späten 19. Jahrhundert und auch aus  Kommune 1-Zeiten angereichert. Ein ausführliches „Wer ist wer?“ hilft auf die Sprünge, Anmerkungen und Verweise vervollständigen den Text. Wieder ein schönes und interessantes Buch aus der edition Friedenauer Brücke.

Sigrid Wiegand

Christian H. Freitag
Ritter, Reichsmarschall & Revoluzzer
edition Friedenauer Brücke, 2015
24.- Euro