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06.02.2022 / Menschen in Schöneberg

Ansichten eines Berliner Flaneurs – Acrylbilder von Jürgen Kühne

Von Thomas Kröter. „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen“, beginnt Franz Hessels berühmtes Buch „Spazieren in Berlin“. „Man wird überspült von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung.“
Alte Nationalgalerie. Acrylbild von Jürgen Kühne

Doch schon Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als Gehsteige noch Fußgängern vorbehalten und elektrische Roller nicht erfunden waren, klagt er, seine „lieben Berliner Mitbürger“, machten ihm die gemächliche, ziellose Fortbewegung nicht so leicht.

Jürgen Kühne kennt das Problem. Auch er stört immer wieder den Fluss der Eilenden um ihn herum, wenn er eine Stadt gehend sich erschließt. Ein wandelndes Hindernis. Er hat u. a. Paris, Buenos Aires und Madrid bereist, in London, Moskau und New York gelebt.  Er liebt Städte, fremde, aber auch die eigene. Die meiste Zeit des Jahres lebt er in Berlin, wo er bis zu seiner Pensionierung Professor für Metallkunde war - wenn es ihn nicht gerade in seinen Heimathafen nach Rostock zieht, wo er studiert und gearbeitet hat.

Er wolle, hat Franz Hessel einst geschrieben, den „Ersten Blick“ auch auf die Stadt,  in der er lebe, „gewinnen oder wiederfinden...“, - der „Erste“ mit einem großem „E“. Der Erste Blick auch beim wiederholten Hinschauen? Die verrätselte Formulierung bezeichnet den Versuch des flanierenden Schriftstellers, seine Unbefangenheit zu bewahren, auch oder gerade, wenn eine Umgebung ihm bereits vertraut ist.  

Der Erste Blick des Malers ist keine einfache oder gar naive Angelegenheit. Er setzt sich aus wiederholten Anschauungen zusammen. Der Künstler schlüpft in die Rolle seines Publikums, dem er versucht, seine Wirklichkeit auf neue Weise nahe zu bringen. In diesem Sinn tritt er seinen Gegenständen im Wege einer reflektierten Naivität gegenüber. Vorstudien, Skizzen auf Papier oder Leinwand sind Jürgen Kühnes Sache nicht. Er umkreist seine Motive, bis er eine Perspektive gefunden hat, die ihm passend erscheint. Dann beginnt er zu malen.
Jürgen Kühne ist Autodidakt. Er hat nie eine Kunstakademie besucht oder auch nur einen Malkurs. Aber frühzeitig hat er „gekritzelt“, wie er es nennt. So hat er  in der Schulpause die Kirche auf die Tafel gezeichnet, die er aus dem Klassenfenster sehen konnte. Auch seine Mutter stand ihm früh „Modell“.  Zielgerichtet zu malen hat er erst vor etwa 25 Jahren begonnen. Aber seitdem hat es ihn nicht mehr losgelassen.

Er malt in kräftigen Farben mit schnellem Strich und eher breiten Pinseln. Aquarell ist ihm zu matt, Ölfarben zu aufwändig. Der flüssige Acrylkunststoff trocknet schnell. Das kommt, wie er sagt, seiner Ungeduld entgegen. Wenn ihm etwas nicht gelungen erscheint,  wird’s halt übermalt.  

Sein Standardformat bei diesen Bildern ist  80x100 cm oder 100x100 cm. Durch dieses „Nadelöhr“ muss die Realität, soll sie auf seine Leinwand passen. Schon dieses Format verändert die Welt, notfalls werden Straßenschilder und Bäume versetzt, Gebäude gar verzerrt. Jürgen Kühne malt meist gegenständlich. Ist das Naturalismus, Realismus? Auf jeden Fall ist es die Welt, wie er sie sieht und wie er ihr mit seiner Phantasie und seinem Pinsel eine eigene Gestalt gibt.  

In einem zentralen Punkt übrigens unterscheidet sich der malende Flaneur Jürgen Kühne vom schreibenden Franz Hessel. Dieser lässt das historische Berlin von Schinkel und Co. links liegen. Er kümmert sich um die Moderne seiner Zeit - der preußische Dom ist nicht sein Ding.  Er interessiert sich für die Kathedralen des Industriezeitalters.

Jürgen Kühne dagegen führt uns an zentrale Orte des historischen, des repräsentativen Berlins: Brandenburger Tor, Zeughaus, Gendarmenmarkt, Stadtschloss, Lustgarten mit Dom und  Altem Museum. Den glatten Fassaden der sozialistischen Zweck- und Schlichtbauten kann er nichts abgewinnen. Vielleicht findet er deshalb auch keinen künstlerischen Zugang zur anspruchsvollen architektonischen Moderne des Westens. „Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, die Philharmonie zu malen“, berichtet er. Vergeblich. „Es ist nichts Gescheites daraus geworden.“

Es sind die historischen Gebäude, die Jürgen Kühnes Blick immer wieder neu auf sich ziehen: Skulpturen, Kapitelle, Verzierungen, die vielen Fenster mit ihren einzeln gefassten kleinen Scheiben. Es sei ein Kunstgriff, die vielen Details scheinbar „verschmiert“ zu malen, begeistert er sich, um doch im Auge der Betrachter aus der Distanz zusammengesetzt erkennbar zu werden.

Stellvertretend für uns, die Betrachter, lässt er immer wieder Menschen durch seine Bilder flanieren. Aber das sind keine realistischen Darstellungen. So leer wie „sein“ Pariser Platz oder der Gendarmenmarkt ist es dort nie. Jedenfalls nicht bei Tag.

Aber seine künstlerische Welt erschöpft sich nicht in einem wiederbelebten Preußentum. Auf dem Weg zwischen Berlin und Rostock lässt er sich von der Weite der flachen norddeutschen Landschaft mit ihren weiten Raps- und Mohnfeldern inspirieren. Darüber hinaus finden auch immer wieder Segelboote Eingang in seine Kunst.

Und da ist noch eine Leidenschaft,  die zu pflegen er im Zeitalter von Corona besonders vermisst. Jürgen Kühne ist ein leidenschaftlicher Tänzer des Tango Argentino. Diesen Tanz und sein besonderes „Milljöh“ macht er immer wieder zum Gegenstand seiner Bilder - an die 50 sind es inzwischen, präsentiert in mehreren Ausstellungen. Doch Tango ist ein Paartanz, in dem die Partnerinnen und Partner einander sehr nahe kommen und dennoch häufig wechseln - also gerade das Gegenteil dessen, was die hoch infektiöse Pandemie uns abverlangt. Da ist es erheblich gesünder, durch das spätpreußische Berlin zu flanieren.

Gerade in der jetzigen eher grauen Jahres-zeit vermag seine Ausstellung im Nachbarschaftshaus Friedenau einen farbreichen Kontrast zu setzen. Sie ist noch bis Ende Februar zu sehen.

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